Forschungsgegenstand „Weißsein und Geschlecht"

Die kritische Auseinandersetzung mit Weißsein und Geschlecht stellt einen bedeutsamen Beitrag sowohl zur Rassismusforschung als auch zur Frauen- und Geschlechterforschung dar. Häufig tendiert Rassismusforschung dazu, sich auf die Herstellung der sogenannten „Anderen" als „Farbige" zu konzentrieren, ohne dabei Weißsein als treibende Kraft dieser Herstellungsprozesse kritisch in den Blick zu nehmen. Auf diese Weise bleibt Weißsein entweder unsichtbar und scheinbar außerhalb der verschiedenen Konstruktionen von „Rasse" verortet, oder es wird benannt, aber nicht problematisiert: Weißsein gilt dann weiterhin als die Norm, als wesenhaft und übergeschichtlich.
In der Frauen- und Geschlechterforschung lassen sich ähnliche Tendenzen nachweisen: zwar nehmen viele Weiße Feministinnen die Kritik an der Universalisierung des Verständnisses von „Frauenerfahrung" ernst und benennen ihre Arbeit aus ihrem jeweiligen Kontext, jedoch bleibt auch hier der Bezug auf das eigene Weißsein meist ein symbolischer Akt. Die Tatsache, dass (zumindest seit Beginn der Moderne) vergeschlechtliche (gendered) Körper immer schon rassialisierte sind, dass Sexismen und Rassismen unauflöslich miteinander verbunden sind, wird in der Frauen- und Geschlechterforschung nicht erschöpfend reflektiert.
Kritische Forschung zu Weißsein gründet in der Erkenntnis, dass es sich bei Weißsein um ein gesellschaftliches Konstrukt handelt, das im Zuge von Rassialisierungsprozessen seit dem 17. Jahrhundert entstand und selbst die treibende Kraft bei der Herstellung vielfältiger „farbiger Menschen" darstellt(e). Mit ihrer Kritik an Weißsein als Norm, als Signatur von Überlegenheit, Intelligenz und Zivilisation ist die Weißseins-Forschung fest auf dem Gebiet der Rassismusforschung verankert und vertieft sie um eine wesentliche Dimension: kritische Forschung zu Weißsein ermöglicht es, alle Menschen, nicht nur die sog. „Nicht-Weißen", innerhalb rassistischer Strukturen zu positionieren. Auf diese Weise bleibt Weißsein nicht der „unmarked marker", sondern wird selbst markiert als spezifisch, partikular, seltsam und relational.
Viele feministische Untersuchungen bezeichnen Gender als ein Konstrukt, das auf dem Hintergrund der Erfindung der Zweigeschlechtlichkeit im 19. Jahrhundert und als Effekt von Politik und Herrschaftswissenschaften zu analysieren ist. Wenn diese Ansätze die Herausforderung der kritischen Weißseinsforschung annehmen, ergeben sich signifikante Verschiebungen: Begriffe wie „Weiblichkeit" als Signatur von Schönheit, Anmut und Tugend werden als spezifische und partikular rassialisierte Imaginationen bestimmt, die sich nie auf Schwarze Frauen und Frauen of Color beziehen sollten. Des gleichen erscheinen Repräsentationen von Maskulinität als Inbegriff von Macht, Kontrolle und Rationalität als spezifisch Weiße Konstrukte.
Die Analyse von Weißsein und Geschlecht genügt selbstverständlich nicht, um die vielfältigen Dimensionen von gesellschaftlichen Machthierarchien zu erfassen; andere Aspekte wie Klasse, Lebensform, Alter, Nationalität, Ethnizität und Religion entscheiden z.B. darüber, wie „Weiß" und „weiblich" eine bestimmte Person definiert wird.
Der Begriff „Critical Whiteness Studies" entstand in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts in den USA. Whiteness wird als gesellschaftliches Konstrukt diskutiert, das flexibel, instabil und widersprüchlich ist. Ziel der Critical Whiteness Studies ist die Dekonstruktion von Whiteness als Norm, an der alles andere gemessen wird. Gleichzeitig fungiert es als Rest, als das, was übrigbleibt, nachdem alles andere benannt wurde.
In wenigen Jahren fand diese Forschungsrichtung in viele nordamerikanische akademische Disziplinen Eingang, zahllose Publikationen folgten.
Viele der Fragestellungen, die in nordamerikanischen Studien zu Whiteness aufgeworfen wurden, können auch für den europäischen Kontext fruchtbar gemacht werden. Darüber hinaus kann die europäische Forschung zu Weißsein und Geschlecht aus der Kritik lernen, die innerhalb der Critical Whiteness Studies entstand; sie bezieht sich unter anderem auf die Positionierung Weißer ForscherInnen in diesem Forschungsfeld, die Gefahr, mit dieser Forschung Weißsein eher wieder zu rezentrieren als zu dezentrieren, auf die Marginalisierung des Aspekts Gender, auf die Tendenz der Akademisierung des Forschungsgebiets und damit verbunden auf die Frage, welchen Beitrag die Dekonstruktion der Normativität von „Weißsein" konkret zum Kampf gegen alltägliche und strukturelle rassistische Gewalt leistet.